In einem Perforce-Ritt durch die Geschichte der Ukraine seit der Wendezeit zeigt der Osteuropa-Historiker Prof. Dr. Klaus Gestwa von der Universität Tübingen auf dem Zukunftsforum in Leipzig, wie zivilgesellschaftliche Protestbewegungen in der Ukraine seit 1990 als treibender Faktor für gesellschaftliche Veränderung hin zu Diktatur und weg von postsowjetischen Machtstrukturen und Korruption waren.
Gleichzeit zeigt er auf, wie sich Russland in Richtung Westen annäherte, wobei der Kreml 2004 auch keine Bedenken zur NATO-Osterweiterung und einen möglichen NATO- und EU-Beitritts der Ukraine zeigte.
Wie das Putin-Regime aber, verstärkt seit 2007, eine autokratische Entwicklung vorantrieb, dabei zivilgesellschaftliche Gruppen in Russland gleich- oder ausschaltete und nach außen einen Imperialismus vorantrieb, denen Georgien und später die Ukraine zum Opfer fielen.
Systemvergleich zu 5 Themen
In den 2. Teil seines Vortrags stellt Gestwa einen Systemvergleich zwischen Russland und der Ukraine, anhand von 5 Themen, die anhand von Forschungsfeldern an seinem Lehrstuhl in Tübingen bearbeitet werden:
- Putins Russland vermag es nicht, ein angemessenes Instrumentarium zu finden um die eigene Gesellschaft und Geschichte zu beschreiben oder aufzuarbeiten.
Der Reaktionäre großrussische Imperialismus des 19. Jh., der überzogene Führerkult, der Russland mit Putin gleichsetzt und der immer wieder aktualisierte Weltkriegs-Triumpf von 1945 sorgen für die mentale Aufrüstung und die patriotisch-
Die Menschen in der Ukraine arbeiten sich an den offenen Wunden ihrer Geschichte ab. Es kommt zu einer Aufarbeitung des sowjetischen Erbes. Zwar liegt beim Umgang mit den dunklen Seiten der eigenen Geschichte in der Ukraine noch einiges im Argen. Wegen vieler gesellschaftlicher Initiativen kommt es zu Prozessen des dialogischen Erinnerns, daraus soll neue politische Gestaltungskraft für Vergangenheit und Zukunft gewonnen werden.
Nach 1991 erfassten Russland neo-imperiale Phantomschmerzen. Die Ukraine erlebte diese Zeit als nationale Wiedergeburt.
Umgang mit Korruption
- Die Korruption stellt in beiden Ländern ein großes politisches Übel dar. In Russland dient Korruption als Schmiermittel des Putin-Syndikats und hat ein exorbitantes Ausmaß erreicht. In der Ukraine hingegen hat die Korruptions-Bekämpfung an politischer Bedeutung gewonnen. In den letzten Jahren ist neben den staatlichen Strukturen ein eigener Mechanismus etabliert worden, so dass mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattete Stellen in enger Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und den Medien Korruptionsvorwürfen nachgehen können.
Daher sind viele Formen der Bestechlichkeit und der Vorteilsnahme aufgedeckt worden, unter anderem auch im Bereich der Justiz und des Militärs.
Daher hat sich die Ukraine auf dem Korruptions-Wahrnehmungs-Index seit 2014 beständig nach oben gearbeitet. Zum Erreichen der EU-Standards ist es noch ein weiter Weg, aber richtige Weichenstellungen sind erfolgt. - Putin setzt auf Machtvertikale in Russland. Regionen und Kommunen büßten ihre Selbstverwaltungs- und Gestaltungsrechte ein und wurden zu Befehlsempfängern degradiert, um sie besser zu beaufsichtigen und auszubeuten. Daher werden wichtige Aufgaben vor Ort nicht angegangen, darunter leidet u.A. die Infrastruktur.
In der Ukraine hingegen hat es starke Prozesse der Dezentralisierung gegeben. Ein großer Teil des Steueraufkommens bleibt vor Ort. So dass die kommunalen Amtsträgerinnen und Amtsträger über ausreichend Mittel verfügen, um in gesellschaftliche Nah-Strukturen zu investieren und die Lebensumstände vor Ort verbessern zu können. Damit wird die Ukraine zu einem spannenden Laboratorium demokratischer Reformen, von denen Europa einiges lernen kann. - Reformerfolge zeigten sich in Mariupol, wo seit 2014 nach wachsendem gesellschaftlichem Druck in Fabriken Filteranlagen eingebaut werden mussten und die Schadstoff-Emission zurückgingen. In keiner russischen oder kasachischen Industrieregion lässt sich eine vergleichbare ökologisch-technologische Modernisierung wie in Mariupol beobachten.
In Mariupol wurden die kommunalen Mittel zur ökologischen und sozialen Verbesserung des Wohnumfeldes genutzt. Das unterstreicht, wie wichtig eine aktive Zivilgesellschaft und demokratischer Prozesse sind im eine Verbesserung der ökologischen und sozial-kulturellen Situation zu erreichen. - Die psychosozialen Folgen des Krieges stellt für zahlreiche Familien eine fortlaufende Bedrohung dar mit schweren Folgen auch für das gesellschaftliche Miteinander. Posttraumatische Belastungsstörungen können sich unterschiedlich äußern, in Form von Depressionen und Selbstmord oder Aggression und schweren Gewalttaten, oftmals in Verbindung mit Drogenmissbrauch.
Im postsowjetischen Raum wurde das für die in Vietnam kämpfenden US-Soldaten entwickelte Konzept des PTSD inklusiver bewährter Therapieformen aus den USA übernommen.
Die Ukraine orientierte sich aber seit Beginn des 21. Jh. um und nahm Hilfsangebote
westliche Organisationen an, um geeignetere Therapievorschläge umzusetzen.
Die Brisanz des Themas machte der 2014 begonnene Krieg im Donbas deutlich, der nicht nur zu 14.000 Kriegstoten, sondern einer Vielzahl von Kriegs-Traumatisierten führte.
Damals spielte sich die Zusammenarbeit zwischen internationalen NGOs und staatlichen Gesundheitsbehörden und zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen ein. Das soziale Engagement ist seit der russischen Vollinvasion 2022 intensiviert worden, das gleiche gilt für die Internationale Hilfe. Ohne das sähe die Lage in der Ukraine deutlich schlimmer aus.
Russlands Regime hat in der letzten Dekade aus Angst vor westlicher Beeinflussung auf Zusammenarbeit bei psychosozialen Dienstleistungen verzichtet und sogar gut eingespielte Zusammenarbeit gekappt. Das ging zulasten vieler Patienten. Weil ausgefallene internationale Hilfsgelder und Hilfsangebote durch dem Kreml genehme Hilfsangebote nicht ausgeglichen werden konnten. Dem Putin-Kartell ist die eigene Machtsicherung wichtiger als das Wohlergehen seiner Bevölkerung.
Links zur Vertiefung:
Menschenkette von Kyjiw nach Lwiw 1990:
https://www.rferl.org/a/living-chain-across-ukraine-independence-soviet-union/32788067.html
Die Revolution auf Granit:
https://www.rferl.org/a/the-revolution-on-granite-ukraine-s-first-maidan-kyiv/30892599.html
Video „Wir werden niemals Brüder sein“:
https://www.youtube.com/watch?v=jj1MTTArzPI
Putin zur Nato-Osterweiterung 2004:
http://www.en.kremlin.ru/events/president/news/30679
Lehrstuhl Prof. Dr. Klaus Gestwa
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